Augen in der Gross-Stadt
DIE EINLADUNG
Ich suche nicht - ich finde.
Wenn du zur Arbeit gehst
am frühen Morgen,
wenn du am Bahnhof stehst
mit deinen Sorgen:
da zeigt die Stadt
dir asphaltglatt
im Menschentrichter
Millionen Gesichter:
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider -
Was war das? vielleicht dein Lebensglück...
vorbei, verweht, nie wieder.

Du gehst dein Leben lang
auf tausend Straßen;
du siehst auf deinem Gang, die
dich vergaßen.
Ein Auge winkt,
die Seele klingt;
du hast's gefunden,
nur für Sekunden...
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider -
Was war das? Kein Mensch dreht die Zeit zurück...
Vorbei, verweht, nie wieder.

Du mußt auf deinem Gang
durch Städte wandern;
siehst einen Pulsschlag lang
den fremden Andern.
Es kann ein Feind sein,
es kann ein Freund sein,
es kann im Kampfe dein
Genosse sein.
Er sieht hinüber
und zieht vorüber ...
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider -
Was war das?
Von der großen Menschheit ein Stück!
Vorbei, verweht, nie wieder.
Es interessiert mich nicht, womit du deinen Lebensunterhalt verdienst. Ich möchte wissen, wonach du innerlich schreist und ob du zu träumen wagst, der Sehnsucht deines Herzens zu begegnen.

Es interessiert mich nicht, wie alt du bist. Ich will wissen, ob du es riskierst wie ein Narr auszusehen, um deiner Liebe willen, um deiner Träume willen und für das Abenteuer des Lebendigseins.

Es interessiert mich nicht, welche Planeten im Quadrat zu deinem Mond stehen. Ich will wissen, ob du den tiefsten Punkt deines Lebens berührt hast, ob du geöffnet worden bist von all dem Verrat, oder ob du zusammengezogen und verschlossen bist aus Angst vor weiterer Qual. Ich will wissen, ob du mit dem Schmerz - meinem oder deinem - dasitzen kannst, ohne zu versuchen, ihn zu verbergen oder zu mindern oder ihn zu beseitigen. Ich will wissen, ob du mit der Freude - meiner oder deiner - dasein kannst, ob du mit Wildheit tanzen und dich von der Ekstase erfüllen lassen kannst, von den Fingerspitzen bis zu den Zehenspitzen, ohne uns zur Vorsicht zu ermahnen, zur Vernunft, oder die Grenzen des Menschseins zu bedenken.

Es interessiert mich nicht, ob die Geschichte, die du erzählst, wahr ist. Ich will wissen, ob du jemanden enttäuschen kannst, um dir selbst treu zu sein. Ob du den Vorwurf des Verrats ertragen kannst und nicht deine eigene Seele verrätst. Ich will wissen, ob du vertrauensvoll sein kannst und von daher vertrauenswürdig. Ich will wissen, ob du Schönheit sehen kannst, auch wenn es nicht jeden Tag schön ist, und ob du dein Leben aus Gottes Gegenwart speisen kannst. Ich will wissen, ob du mit dem Scheitern - meinem oder deinem - leben kannst und trotz allem am Rande des Sees stehen bleibst und zu dem Silber des Vollmonds rufst: Ja!.

Es interessiert mich nicht zu erfahren, wo du lebst und wieviel Geld du hast. Ich will wissen, ob du aufstehen kannst nach einer Nacht der Trauer und der Verzweiflung, erschöpft und bis auf die Knochen zerschlagen, und tust, was für die Kinder getan werden muss.

Es interessiert mich nicht, wer du bist und wie du hergekommen bist. Ich will wissen, ob du mit mir in der Mitte des Feuers stehen wirst und nicht zurückschreckst.

Es interessiert mich nicht, wo oder was oder mit wem du gelernt hast. Ich will wissen, was dich von innen hält, wenn sonst alles wegfällt. Ich will wissen, ob du allein sein kannst und in den leeren Momenten wirklich gern mit dir zusammen bist.

Suchen, das ist das Ausgehen von alten Beständen und das Finden-Wollen von bereits Bekanntem im Neuen.

Finden, das ist das völlig Neue!

Das Neue auch in der Bewegung. Alle Wege sind offen, und was gefunden wird, ist unbekannt. Es ist ein Wagnis, ein heiliges Abenteuer.

Die Ungewissheit solcher Wagnisse können eigentlich nur jene auf sich nehmen, die sich im Ungeborgenen geborgen wissen, die in der Ungewissheit, der Führerlosigkeit geführt werden, die sich im Dunklen einem unsichtbaren Stern überlassen, die sich vom Ziele ziehen lassen und nicht, menschlich beschränkt und eingeengt, selbst das Ziel bestimmen.

Dieses Offensein für jede neue Erkenntnis im Außen und Innen: das ist das Wesenhafte des modernen Menschen, der in aller Angst des Loslassens doch die Gnade des Gehaltenseins im Offenwerden neuer Möglichkeiten erfährt.

Kurt Tucholsky 1930

 Oriah Mountain Dreamer, indianische Stammesälteste der Chirokee
Pablo Picasso