Gewaltfreie Kommunikation

#11

Kelly Bryson

Die Gefahren des Verdienens

MEINE FAMILIE hat mir beigebracht, daß ich nichts verdiene. Deshalb höre ich heute, wenn ich etwas will, eine Stimme, die sagt: »Ich bin gierig und verdiene das nicht«, was in mir Gefühle der Scham und Depression weckt. Meine New-Age-Freunde sagen mir, daß ich alles verdiene, und deshalb denke ich: »Wenn ich alles verdiene, weshalb bekomme ich es dann nicht? Das ist nicht fair!« Und dann bin ich wütend und verbit­tert. Vielen Dank, Leute! Jetzt habe ich zwei Überzeugungsbarrieren, die ich überwin­den muß, damit Erfolg oder Liebe in mein Leben einziehen können.

Überzeugung 1 lautet: »Ich verdiene es.« Diese Überzeugung macht mich wütend und eifersüchtig, wenn ich diese kleine Nullcheckerflasche Deepak Chopra ständig im Fernsehen sehe, und diese widerwärtigen Bilder von seinem Anwesen mit Meerblick, das nur wenige Meilen und gleichzeitig ein komplettes Universum von meinem Haus in San Diego entfernt liegt. (Das war nur ein Scherz. Deepak Chopra war sehr gütig zu mir. Beispielsweise hat er mir ermöglicht, meinen Ansatz in seinem Zentrum vorzustel­len. Außerdem hat er die Gewaltfreie Kommunikation sehr unterstützt und sie sogar als »den fehlenden Teil« seiner eigenen Arbeit bezeichnet.) Zu denken, »Ich verdiene es«, kann Wut stimulieren. Warum? Weil man etwas, das man verdient, auch bekom­men sollte, nicht wahr? Wenn wir denken, etwas »sollte« auf eine bestimmte Weise sein, macht uns das wütend. Diese Art zu denken ist eine Form, die Realität zu leugnen, weil sie behauptet, daß das, »was ist«, nicht so sein »sollte«.

Überzeugung 2 lautet: »Ich verdiene es nicht.« Diese Überzeugung versetzt mich in Depression und selbstbedauernde Hilflosigkeit. Die Angst, daß ich etwas nicht verdiene, taucht jedesmal auf, wenn jemand versucht, mir etwas zu geben, das ich will. Manchmal veranlaßt sie mich dazu, das Geschenk auf irgendeine Weise abzulehnen.

Ich möchte über »verdienen« hinausgelangen zu »Ich will ...« oder »Ich habe mich dafür entschieden, ... haben zu wollen.« Wenn wir uns die Vorstellung des Verdienens vergegenwärtigen, taucht gleichzeitig das Konzept des Nicht-Verdienens auf. Zu den­ken, »Ich verdiene nicht«, kann Gefühle wie Scham, Schuld und Angst stimulieren. Ich möchte nicht deshalb im Überfluß bekommen, was ich will, weil ich dies »verdiene«, sondern weil ich etwas will und weil ich beschließe, es mir zu gönnen. Ich entscheide mich, mich nicht in meinen Kopf zurückzuziehen und darüber zu theoretisieren, ob ich etwas verdiene oder nicht.

Zu sagen, daß jemand x, y oder z verdient, beinhaltet, daß der Betreffende das Ge­wünschte aufgrund von etwas, das er getan hat, »verdient«. Wenn Sie beispielsweise zu jemandem sagen: »Du verdienst Überfluß«, dann impliziert dies, daß der Betreffende seine Pflichten erfüllt hat. Und was ist mit der Idee, daß der Regen »auf Gerechte und Ungerechte gleichermaßen fällt« - auf die, die es verdient haben, ebenso wie auf die, die es nicht verdient haben? Alfie Kohn stellt in seinem wundervollen Buch Punished By Rewards die marktwirtschaftliche Grundlage unseres westlichen Gerechtigkeitssinns in Frage: »Die Annahme, daß Menschen schon allein aus Gründen der Fairness stets bekommen sollten, was sie >verdient haben< - daß das Gesetz des Marktes dem der Ge­rechtigkeit gleich ist -, ist äußerst zweifelhaft.« Anschließend erklärt er, wie eine Sicht persönlicher Beziehungen im Sinne marktwirtschaftlicher Vorstellungen sich auf dieselben negativ auswirkt und sie depersonalisiert.

Wie steht es mit der Möglichkeit, daß der Überfluß da ist, um in Besitz genommen zu werden? Sicherlich muß dies dem oberflächlichen Betrachter als sinnvoll erschei­nen, denn man trifft gelegentlich auf gewalttätige Menschen mit abscheulichen Wertvorstellungen, die wesentlich berühmter, glücklicher und angesehener sind als »gute« Menschen, die all dies angeblich »verdient« haben. Wir projizieren das auf das Univer­sum, was wir in unseren Familien erlebt haben, wo oft die Regel galt: »Dir wird gegeben, wenn du gehorsam bist.« Wir glauben, daß das Universum auf Ursache-Wirkungs-Beziehungen basiert, genauso, wie es in unserer Familie war. Wir können uns kaum vorstellen, daß das Universum uns ohne jegliche Vorbedingung etwas gibt. Wir glauben, wir müßten etwas erst verdienen oder zumindest glauben, daß wir es verdient haben, bevor wir es erhalten.

Eine für New-Age-Religiosität typische Falle ist die folgende Überzeugung: »Sobald ich zu glauben in der Lage bin, daß ich etwas verdient habe, erhalte ich es. Bekomme ich nicht so viel, wie ich möchte, beweist dies, daß ich glaube, ich verdiene es nicht.« Aul solch ein »Rad des Unglücks« kann man sich sehr leicht fixieren. Vielleicht wartet das Universum nur darauf daß Sie sich von der Vorstellung des »Verdienens« oder »Nicht-Verdienens« lösen, damit Sie zu der Offenheit fähig sind, die Sie brauchen, um etwas empfangen zu können. Wie wäre es, wenn Sie es müde würden, damit zu ringen, ob Sie etwas verdient haben oder nicht, und wenn Sie so bescheiden wären, sich einzugestehen, daß Sie es nicht wissen? Was wäre, wenn Sie sich selbst eingestehen könnten, daß Sie einfach nur x, y oder z wollen, ganz unabhängig davon, ob Sie dies verdient haben oder nicht? Vielleicht könnten Sie dann die Verantwortung dafür übernehmen, daß Sie sich dafür entschieden oder nicht entschieden haben.

		Beurteilungen und Analysen anderer 
		sind dissoziierte Formen 
		des Ausdrucks unserer eigenen Wünsche.

Die Neid-Übung

Ich war einmal auf folgende Denkweise fixiert: »Schau dir diesen Lehrer/Workshop-Leiter an; schau, welche Massen er anzieht. Was er zu bieten hat, ist nicht einmal annä­hernd so gut wie das, was ich leiste. Soviel Anerkennung verdient er einfach nicht.« Doch Eifersucht und Verletztheit, weil andere mehr bekommen, als sie [in unseren Augen] verdienen, entwickeln sich zu einer Art von moralisierendem, selbstgerechtem Überlegenheitsge­fühl. »Zumindest bekomme ich nicht mehr, als ich verdiene.«

Dabei führt sowieso niemand Buch über ihr »Verdienstkonto«. Dem Uni­versum ist es im Grunde egal, ob Sie mehr oder weniger bekommen, als Sie nach ihrer eigenen Auffassung verdienen. Allerdings beeinflußt diese Auffas­sung sehr stark, worum zu bitten Sie bereit sind. Wenn Sie auf irgend jeman­den in der Welt eifersüchtig sind, dann wahrscheinlich deshalb, weil Sie nicht um alles bitten, was Sie wollen. Sollte das bei ihnen so sein, empfehle ich ihnen die folgende Übung: Schreiben Sie die Namen der Menschen auf die Sie beneiden, und schreiben Sie dazu, um was Sie die Betreffenden beneiden. Schreiben Sie anschließend die wesentlichen Elemente von dem au£ was jene anderen haben, die auch Sie bereits besitzen, und werden Sie sich darüber klar, welche Bedürfnisse diese Elemente erfüllen. Notieren Sie schließlich auch noch, welche Schrit­te Sie unternehmen könnten, um mehr von dem zu bekommen, was Sie wollen, und wann Sie diese Schritte zu unternehmen gedenken.

Es folgt meine Liste:

Person: Stan Dale, Direktor des Human Awareness Institute, Autor, Lehrer.

Um was beneide ich ihn? Um einen großen Kreis liebevoller Menschen, mit denen er interagieren, die er belehren und um die er sich kümmern kann.

Welche Bedürfhisse werden durch diese Dinge erfüllt? Die Bedürfnisse nach einer Gemeinschaft, nach einer Nische, nach einer Möglichkeit, einen positiven Beitrag zu etwas zu leisten, nach Zuneigung, nach emotionaler und intellektueller Anregung.

Was bin ich bereit zu tun, um diese Bedürfhisse zu erfüllen? Ich habe einen wachsenden Kreis liebevoller Menschen. Ich leite Workshops, die mir helfen, mein Bedürfnis, einen positiven Beitrag zu leisten, zu erfüllen.

Welche Schritte könnte ich in die Wege leiten, um meine Bedürfhisse noch besser erfüllen zu können? Ich kann dieses Buch fertigstellen und seine Verbreitung fördern. Ich kann mit dem Human Aumreness Institute und dem Center for Partnership Studies in meiner Heimatstadt zusammenarbeiten, um es bekannt zu machen.

Wann werde ich diese Dinge tun? Ich werde das Buch am 30. Juni fertigstellen und mich dann in den nächsten beiden Jahren um seine Verbreitung bemühen. Ich werde die entscheidenden Leute bei beiden genannten Organisationen anrufen und sie fragen, wie ich ihre Arbeit dort, wo ich wohne, unterstützen kann, und zwar vor dem 1. Sep­tember.

Es ist wichtig, sich für die Fertigstellung ganz bewußt einen Termin zu setzen, um den Plan wirklich zu realisieren.


Der Traum vom Diamantenfeld

Ich habe einmal geträumt, es gebe ein Feld von Diamanten, in denen sich verschiede­ne Arten von Menschen befinden. Einige dieser Menschen sind verängstigt und haben einen unersättlichen Appetit auf Diamanten. Sie sammeln und horten Hunderte von
Diamanten und bemühen sich verzweifelt, aber nicht immer mit Erfolg, auf diese Weise die Löcher in ihrer Seele zu stopfen. Es gibt auch Menschen, die wie kleine Kinder sind und sich nie fragen, ob sie die Diamanten verdienen oder nicht, sondern die sich einfach ihrer natürlichen Faszination angesichts dieser funkelnden Gesteinsbrocken hingeben. Sie nehmen sie in die Hand, stecken sich einige in die Taschen und geben andere ihren ebenfalls kindlichen Freunden und feiern auf diese Weise ohne jede Spur von Angst das Wunder der Welt. Außerdem gibt es jene, die zwar vom Glanz der Stei­ne fasziniert, aber nicht beweglich genug sind, um sich demütig niederbeugen und die Diamanten vom Boden aufheben zu können. Wieder andere tun nichts und fragen sich ständig, was sie tun könnten oder sollten.
Außerdem gibt es diejenigen, die grübeln, ob sie diese Steine verdienen oder nicht. Sie sind im Lähmungszustand der philosophischen Analyse gefangen. Sie haben Angst, irgend etwas anzunehmen, wenn sie glauben, sie hätten das betreffende Geschenk nicht verdient oder kein Recht darauf es anzunehmen.


In einem ihrer Songs faßt Ruth Bebermeyer dies wie folgt zusammen:

Ich mag es, mir klar zu machen, daß es nichts zu erreichen gibt.
Das Leben ist ein Geschenk, daß ich nur anzunehmen brauche.